Dienstag, 26. August 2014

Realitäten 110

Der ukrainische Generaloberst Wladimir Ruban gibt in der Ukrainskaja Prawda ein aufschlußreiches Interview zur Lage in der Ostukraine, und SPIEGEL Online berichtet lieber von Tweets us-amerikanischer Sicherheitsberaterinnen.

Eine fixe Google-Suche ergibt: In den etablierten Presseprodukten, SPON, Süddeutsche, FAZ, DerWesten etc. pp., findet sich - Stand Heute - keinerlei Information zu diesem Interview.

Wer sich vorher noch nicht gewundert hat, darf nun damit anfangen.

Aber mal von vorn:
Wer ist Wladimir Ruban?
Wladimir Ruban ist Kiews Beauftragter für Gefangenenaustausch im ukrainischen Bürgerkrieg. Er ist Generaloberst, doch ob er aktiv einen Rang in der ukrainischen Armee bekleidet ist für mich nicht zweifelsfrei feststellbar.
Zu vermuten ist dies allerdings, sonst wäre seine Arbeit kaum möglich.
Beteiligt war er u.a. an der Freilassung der OSZE beobachter vor einigen Monaten.

Was ist Ukrainskaja Prawda?
Ukrainskaja Prawda ist eine Onlinezeitung die als Reaktion auf die repressiven Zustände unter Leonid Kutschma im Jahr 2000 entstand. Sie war wesentlich an der "Orangenen Revolution" beteiligt und würde im aktuell modernen Lagerdenken wohl als "prowestlich" bezeichnet.

Welche Relevanz hat das Interview?
Zum Einen die Identität des Interviewten. Man sollte meinen das zu einem internationalen Konflikt zu dem jedes unbelegte Geheimdienstgemunkel als Neuigkeit durch die Medien geistert, Informationen eines Pragmatikers vor ort einen gewissen Wert haben dürften.
Zum Anderen der Informationsgehalt des Interviews. Wladimir Ruban widerspricht in einigen Punkten Darstellungen welche dem Mainstream im Westen als gesichert erscheinen.

Die überraschensten Aussagen (Übersetzungsfehler/Fehldeutungen können dabei nicht ausgeschlossen werden):
Für Ruban sind die ostukrainischen Militanten keine Feinde.
Mit einigen hat er zusammen auf dem Euromaidan protestiert:
Für mich sind diese Menschen dort keine Feinde. Ihnen fällt das leicht, sie aus Ihrer Position als Feinde zu betrachten. Aber ich kenne diese Leute seit langem. Unter ihnen sind Offiziere, Afghanistan-Veteranen, mit denen wir gemeinsam gegen Janukowitsch protestiert haben. Dort gibt es Leute, mit denen wir auf dem Maidan gestanden haben. Auf dem Euromaidan. Aber wir haben ihn nicht so genannt. 

Für Ruban ist der Konflikt in der Ostukraine die Fortsetzung der Demonstrationen auf dem Maidan - die Ostukrainer versuchen mehr Ziele des Maidan militant zu erreichen:
Und die Leute im Donbass haben entschieden, bis zum Schluß zu kämpfen. Ihnen hat es nicht gereicht, daß Janukowitsch weg war, sie wollen reale Veränderungen im Land. Die meisten Punkte, die sie fordern, sind dieselben, die auch auf dem Maidan vorgetragen wurden.

Ruban streitet eine Beteiligung Russlands ab:
Was hat Rußland damit zu tun? 

Haben Sie dort russische Truppen gesehen?  

Haben Sie die Beteiligung russischer Truppen gesehen? 

Sie werden sie auch inoffiziell nicht sehen, weil es dort keine gibt. Und sogar, wenn Sie irgendeinen Russen oder irgendeinen Soldaten gesehen haben, ist das noch keine Beteiligung Rußlands.  

Wir arbeiten direkt an der Front und bedienen uns unserer Erfahrung und unseres Wissens. Wir sind gewöhnt, die Dinge beim Namen zu nennen. Wenn dort russische Waffen geliefert werden, ist es das eine. Putin kann da vieles verbieten, das ist eine andere Frage. Wenn da russische Offiziere sind, ist es eine dritte. Das ist keine offizielle Beteiligung Rußlands als Kriegspartei. 

Ruban vermutet eine "dritte Seite" die den Konflikt künstlich am Leben erhält:
Ich weiß es noch nicht, ich habe keine entsprechenden Informationen. Wir nennen das, als Arbeitstitel, »dritte Seite«. Besler von den Aufständischen nennt sie so, und die Leute in Donezk sagen es auch. Nach diesen Leuten wird gefahndet, um herauszubekommen, wer diese Saboteure geschickt hat. 

Für Ruban sind die russischsprachigen Ukrainer Ukrainer
Was heißt hier Minderheit? Wie viele Menschen soll man denn umbringen, damit der Donbass als ukrainisch durchgeht? Hundert- oder zweihunderttausend? 

Zweifellos kontroverse Ansichten
die dort ein Repräsentant der ukrainischen Regierung vertritt. Die Frage ist aber nun folgende:
Das Interview erschien in der Ukrainskaja Prawda am 20 August.
Die Übersetzung in der "Junge Welt" erschien am 22 August.
Jetzt bin ich der Letzte der sich gerne auf die JW bezieht - für mich war die JW immer ein stückweit "Rote Fahne" ohne Amüsierungsfaktor.
Aber ich stehe gerade vor dem Problem das - Stand Jetzt - kein Hinweis auf dieses Interview in vermeintlich seriöseren deutschen Quellen zu finden ist.

Neben der Jungen Welt berichten einige obskurere Nachrichtenportale, diverse prorussische Propagandaseiten, aber auch Medien in Finnland, Tschechien und Vietnam - das ergab eine flotte Googleauswertung.

Aber weder SPON, noch FAZ, BILD... einfach alle, berichten auch nur andeutungsweise von diesem Interview.
Das fällt auf.

Ein regelrecht lautes Schweigen

Bisher wurde alles zum Ukrainekonflikt aufgegriffen, egal wie haltlos, unbegründet, abgefahren oder spinnert es auch war - nicht einmal der Luftwaffenoffizier der an MH17 Einschusslöcher gesehen haben will blieb unbeachtet.

Aber der ukrainische Beauftragte für Gefangenenaustausch, eine offizielle Position der aus nächster Nähe die Lage beurteilen kann, interviewt von einer "prowestlichen" ukrainischen Onlinezeitung, ist keine Erwähnung wert?

Nicht einmal eine Diskreditierung, ein Widerspruch, ein Dementi, einfach rein gar nichts?
Wieder einmal beschleicht mich das komische Gefühl, das der Ukrainekonflikt über uns mehr aussagt, als über Ukrainer.

Es ist zweifellos der aktuell bedeutenste internationale Konflikt auf dem Globus, zumindest hinsichtlich seiner Bedeutung für die Geopolitik der nächsten Jahrzehnte.



 



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