Donnerstag, 19. Juni 2014

Realitäten 1


Stellen Sie sich vor, Sie steigen am Hauptbahnhof in ein Taxi und nennen ihr Fahrziel. 
Kaum sind die Türen geschlossen und Sie angeschnallt, drückt der freundlich lächelnde Herr das Gaspedal durch.
Dem ersten Schreck ihrerseits folgt keine Erleichterung, denn der Herr führt seinen Arbeitsauftrag genauso durch, wie er ihn begonnen hat.
Er heizt mit 120 Sachen durch die Innenstadt, überquert Kreuzungen egal welche Farbe die Ampeln gerade zeigen, fährt eleganten Slalom durch Gegenverkehr, brettert über Bordsteine und Sie klammern sich so sehr am Haltegriff fest das ihre Fingerknöchel weiß werden.
Die Fliehkraft drückt Sie gegen die Beifahrertür und Sie hoffen inständig dass das Metall der Verriegelung ihr vervielfachtes Körpergewicht aushalten möge.
Am Stadtpark biegt er dann in die Grünanlage ein, heizt durchs Gebüsch, weicht ein paar Bäumen und den Spielgeräten auf dem Spielplatz aus, donnert durch das seichte Wasser einer Kunstinstallation das die Enten nur so zu Senkrechtstartern werden – und hält schließlich mit rauchenden Reifen an ihrem Fahrziel.

Wenn sie trotz wackelnder Beine noch den Nerv haben, ihn nach der Entlohnung zur Rede zu stellen, ihn zu fragen weswegen er denn ein gefühltes Megabyte an Verordnungen und Gesetzen gebrochen hat, was ihnen oder anderen hätte passieren können, winkt er gutmütig ab.
Er erklärt ihnen das er alles im Griff gehabt habe und weist sie auf die Tatsache hin, das Sie ihr Fahrziel auf der schnellsten und ökonomisch günstigsten Route erreicht haben.
Und hat damit zumindest sogar Recht.

Sie sagen mir jetzt das, so derlei überhaupt geschehen würde, es sicher nicht die Regel sei. Auf Taxis bezogen haben Sie damit auch Recht. Aber das liegt sicher nicht daran das Taxifahrer derlei niemals tun würden. Das hat mit der Anzahl der Zeugen zu tun, seinem Nummernschild, der Höhe von Bordsteinen und einem gewissen Allgemeinwissen der Leute darüber, wie ein Taxi zu fahren hat – und nicht zuletzt dem Umstand das er gesehen wird.
Wenn ihnen jetzt schon dämmert weswegen in der Nacht manche Taxifahrer fahren wie die Irren – oder die Damen der ambulanten Pflegedienste, die Zeitungsausträger oder ab und an auch eine Polizeistreife, dann sind Sie schon auf dem richtigen Weg.

Jetzt stellen Sie sich Berufsfelder vor in welchen die Einzigen die den „Taxifahrer“ kontrollieren, überwachen oder überhaupt sehen, andere Taxifahrer sind. Wenn überhaupt, und er nicht völlig autonom handelt. Schwer vorstellbar?
Na, willkommen in der IT.

In allerbesten Absichten, die sich meist darum drehen eine Aufgabe optimal, zügig, aufwandsgering oder einfach nur geradlinig zu absolvieren, ist das Geheize durch den Ententeich in diesem Berufsfeld absoluter Usus.
Aus deren Perspektive sogar vernünftig.
„Willst Du jetzt wirklich alle fragen...“, „...das dauert doch x Stunden länger“, „...das ist doch naiv..“.
Das Ziel in solchen Kreisen ist, das die Maschinerie läuft. Der Rest ist Carne por la machina. Fleisch für die Maschine.
Und in den allermeisten Fällen ist diese Ausrichtung auch das Einzige was von diesen Menschen von Dritten erwartet wird – sei es nun Auftraggeber oder selbst vermeintlich im Prozess Geschädigten.
So funktioniert Technokratie.
So funktioniert Technokratie in jedem Berufsfeld.
Und das ist eine jener Grundlagen die man sich aneignen muss, wenn man so große Dinge wie die Totalüberwachung durch us-amerikanische Geheimdienste verstehen will.

Das dies nicht sehr verbreitete Erkenntnisse sind, erklärt dann auch den aktuellenVerfassungsschutzbericht 2013. Achtzehn Seiten widmet dieser den echten oder vermeintlichen Aktivitäten ausländischer Geheimdienste aus den „anderen“ Kulturkreisen, zweieinhalb Seiten alleine den Nordkoreanern. Das begründende Fazit erklärt weswegen:
Wenngleich in Deutschland 2013 keine ausgeprägten operativen
Aktivitäten der nordkoreanischen Nachrichtendienste festzustel­
len waren, lässt die andauernde Unterstützung und ideologische
Beeinflussung südkoreanischer Anhänger des Regimes sowie die
versuchte Einreise von Nachrichtendienstmitarbeitern auf eine
anhaltende Tätigkeit in Deutschland schließen.

Eine Mutmaßung anhand von Verdachtsmomenten, und das ist ja auch völlig okay. Holzauge sei wachsam. Aber zugleich ist dies dann auch der Maßstab an welchem man Seite 335 des Verfassungsschutzberichts messen darf, betitelt mit „Nachrichtendienste westlicher Staaten“.

Meldungen und Berichte in den Medien gehen davon aus, dass
auch Dienste westlicher Staaten Spionage in Deutschland betrei­
ben.

Gerade die mit den Veröffentlichungen Edward Snowdens gegen
die National Security Agency (NSA) und andere westliche Dienste
erhobenen Vorwürfe verdeutlichen das mögliche breite Spektrum
neuer Formen der Spionage. Dies wird in der Öffentlichkeit als
eine Gefährdung neuer Qualität wahrgenommen: für die indivi­
duellen Rechte jedes Einzelnen wie auch für Politik und Wirt­
schaft. Im Raum stehen Vorwürfe, dass die NSA nicht nur tech­
nisch in der Lage sei, weltweit an Kommunikationsdaten
insbesondere aus dem Internet zu gelangen, sondern dies in gro­
ßem Stil – in enger Zusammenarbeit mit dem britischen Nach­
richtendienst Government Communications Headquarters
(GCHQ) – auch gegen Deutschland praktiziere.

Vorwürfe gegen NSA
Der Verfassungsschutz geht gemäß seinem gesetzlichen Auftrag
gewissenhaft jedem Anfangsverdacht von Spionage nach. Auf­
grund der massiven Vorwürfe gegen Nachrichtendienste der USA
und Großbritanniens hat das BfV bereits im Sommer 2013 eine
Sonderauswertung zur Aufklärung der Vorwürfe eingerichtet, die
sich mit der Beschaffung und Analyse relevanter Informationen
befasst.
Die Spionageabwehr muss sich stets auf den grundsätzlichen
Wandel durch Globalisierung, geopolitische Veränderungen und
variierende Bedrohungsszenarien einstellen. Hierzu gehört neben
einer sorgfältigen Aufklärung von Verdachtsfällen auch der syste­
matische Einsatz bedarfsangepasster Beobachtungsmodule. Poli­
tisch flankiert wird dieser Prozess durch die im Koalitionsvertrag
für die 18. Legislaturperiode festgeschriebene Vorgabe: „Wir stär­
ken die Spionageabwehr“. Auch der fraktionsübergreifend im
Deutschen Bundestag eingesetzte NSA-Untersuchungsausschuss
wird hierzu weitere Impulse setzen.

Nun muss man fairerweise anmerken das der Verfassungsschutzbericht im Allgemeinen Erkenntnisse mit längerem zeitlichen Vorlauf zusammenfasst. Praxisgemäß wäre also der VfS Bericht 2014 bzgl. der NSA Affäre interessanter. Oder auch nicht.

Denn bereits hier wird ersichtlich, das Mutmaßungen aufgrund von Verdachtsmomenten nur in Bezug auf unliebsame Regierungen legitim zu sein scheinen. Der Verfassungsschutz macht sich die erwähnten massiven Vorwürfe von „Medien“ oder „Öffentlichkeit“ nicht zu eigen.
Dahinter steckt u.a. auch die unbestreitbar höhere Toleranzgrenze für Vergehen „befreundeter“ Staaten oder Kulturkreise mit denen sich das hiesige Establishment bevorzugt assoziiert sehen will.
Selbst wenn das Ausmaß der von dort verursachten Rechtsbrüche alles überschreitet was man zuvor auf achtzehn Seiten diversen unliebsameren Interessensgruppen angedichtet hat.

Das hat eine Menge mit unserem eingangs erwähnten Taxifahrer zu tun. Denn Haltungen, wie sie in der offenkundig politisch gefärbten Gestaltung des VfS Berichtes zu finden sind, erwachsen nur aus der naiven Weltsicht, Übergriffe hätten einen wie auch immer gearteten moralischen Hintergrund, spielten vor einer Kulisse von Gut und Böse, mit guten Übergriffen, bösen Übergriffen, Übergriffen guter Akteure, Übergriffe böser Akteure.
Deswegen ist russische Industriespionage ein schweres Vergehen – massives Telekommunikationsdatenscreening inklusive dazugehöriger Rechtsbrüche durch die USA eher nicht.

Es wäre für die Erörterung von echten oder vermeintlichen Bedrohungslagen sicher hilfreich, wenn sich alle Akteure der Faktenlage klar werden würden – nämlich das vermutlich jeder Taxifahrer, so er denn könnte, sich ab und an oder regelmäßig, der ihm an sinnvollsten erscheinenden Praxis bedient, unabhängig seiner vermeintlich erleuchteten oder dunklen Absichten.

Der Befassung mit Realitäten würde es schlichtweg sehr nützen, wenn weniger Zeit dafür aufgebracht würde märchenhaften Projektionen der eigenen Wünsche hinterher zu jagen. Der chinesische Datensammler unterscheidet sich in wenig bis nichts von seinem us-amerikanischen Pendant. Er ist weder besser noch schlechter. Das spielt für seine Arbeit keine Rolle.
Er tut was er kann auf dem für ihn effizientesten Weg.

Und wer das verstehen und bewerten will, der sollte sich damit auseinandersetzen wie technokratisches Denken funktioniert. Wer sich damit nicht auseinandersetzen mag, verbleibt zwar bequem in seinem Weltbild, geprägt davon ob ihm damals die grünen oder roten (oder grauen) Plastiksoldaten lieber waren.

Aber er versteht nicht was passiert und er kann nichts zum Verstehen beitragen.
Was kann man nun vom Verfassungsschutzbericht 2014 erwarten? 
Was kann man von den Informationen des aktuellen Berichtes halten?
Was kann man von den damit befassten Akteure erwarten?

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